N° 15 Selbstbewusst

CORPSGEIST HIN, KUNDENNÄHE
HER

Neuere Managementtheorien entdeckten den Corpsgeist
als Schlüssel zum Erfolg unternehmerischen Handelns. Die Rückkehr
des Corpsgeists aus der Arbeitswelt in das Corps bereichert das
Leben dieser Gemeinschaft.


Neuere Managementtheorien entdeckten den Corpsgeist als
Schlüssel um Erfolg unternehmerischen Handelns. Die Rückkehr
des Corpsgeists aus der Arbeitswelt in das Corps bereichert das
Leben dieser Gemeinschaft.

Die Institutionen der Arbeitswelt stehen vor dem Dauerproblem
der Steigerung der Produktivität ihrer Mitarbeiter. Das Problem
ist lösbar, wenn man professionellen Unternehmensberatern und
Vertretern des psychosozialen Hilfeleistungsgewerbes Glauben schenken
darf. Toptrainer und Consulter diagnostizieren nur zu gern alle
möglichen Mängel in der Persönlichkeitsstruktur der
Mitarbeiter. Ausgeklügelte Führungsnachwuchsprogramme
und Seminare zur Persönlichkeitsbildung und zur Schulung eines
überzeugenden Auftretens in allen Lebenslagen werden angeboten.
Hemmungen bei der Anwendung klassischer Unternehmertugenden werden
wie psychische Defekte behandelt: denn, so wird uns gesagt, Erfolg
haben diejenigen, die souveränes Durchsetzungsvermögen,
visionäre Kraft, Zielorientierung, Kommunikationskompetenz
und Selbstbewußtsein an den Tag legen. Individuelles Gewinnstreben
müsse von jedermann eingeübt werden, denn nur so könne
die Zukunft der Menschheit gesichert werden. – Ein Assessment Center
mit Zertifikat beurkundet den Erfolg der therapeutischen Bemühungen.

Die Euphorie über die Entdeckung des individuellen
Gewinnstrebens als Grundlage des allgemeinen Wohlstands blieb nicht
unumstritten. Ein neuer Zwang wurde diagnostiziert: die Selbstzentrierung
des Ichs. Um den Patienten zu befreien, wird ihm ein zusätzliches
"Erlebnistraining" verordnet. Das Herantasten an die Grenzen
individueller Belastbarkeit soll ein Gefühl des Angewiesenseins
auf den anderen, soll "Sozialkompetenz" vermitteln. "Grenzerfahrungen"
sollen helfen, sich seiner selbst und seiner Umgebung bewußt
zu werden und mit anderen umgehen zu können. Dem Trainee soll
"Partnerorientierung", soll "Corpsgeist" eingepflanzt
werden, damit er seine Kreativität in einem Arbeitsteam einbringen
könne (denn das selbstbestimmte und eigenverantwortliche Projektteam
ist "cost cutting" und verbürgt den Geschäftserfolg).

Der innere Kern eines Corps, die Aktivitas, sieht sich Problemen
gegenüber, die denjenigen der Projektteams vergleichbar sind;
dementsprechend orientieren sich auch Vorschläge zur Reform
des Corpslebens an Zielvorstellungen der Arbeitswelt: Corpsgeist
kehrt zurück. Dem Paket liegt jetzt aber auch Neues bei: "Kundennähe"
lautet eines der Themen. Kunde eines Corps ist der Schüler
und angehende Student, der Anwärter auf eine Mitgliedschaft.
Früher war sich der Corpsstudent zu fein zu einem Gespräch
mit Schülern; was hätte er auch sagen sollen? Jetzt sucht
er das Gespräch mit den Freunden aus der Schulzeit, neuen Bekanntschaften
geht er nicht aus dem Wege. Er akzeptiert den Verständnishintergrund
des anderen. Der Inaktive beteiligt sich an Erstsemester-Einführungstagen
und engagiert sich als Tutor; aber er berücksichtigt, daß
– nach dem aufmerksamen Zuhören – alles auf den ersten Eindruck,
auf den Eingangsbereich des Corps, auf die Confuchsia ankommt.

Führungsnachwuchsprogramme und Schulen orientieren
sich an den Gesamtformeln von menschlicher Perfektion, Eignung für
gesellschaftliche Aufgaben, Lernfähigkeit für noch unbekannte
Situationen, über deren Propagierung sie aber gerne bemänteln,
daß sie Zensuren zu vergeben und ihre Zöglinge nach "Leistung"
zu klassifizieren haben. Aus der Sicht der Betroffenen geht es daher
um Selbstdarstellungen, um akrobatische Kunststücke im Vorführen
von Leistung und im Verbergen von Fehlleistung (dieses "Können"
scheint denn auch das zu sein, was man in der Schule fürs Leben
lernt).

Der Kunde des Corps ist weder Patient noch Zögling. Er ist
ein selbstbewußter Anwärter auf die Mitgliedschaft in
einer selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Gemeinschaft.

»K. Ibel

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