N° 5 Ehrlich

HINTERBÜHNE – VORDERBÜHNE

Die Behauptung, die ganze Welt
sei eine Bühne, ist reichlich abgegriffen; aber die Inszenierung der
Selbstdarstellung des Corps kann sich der gleichen Sprache und der
gleichen Techniken bedienen, mit denen im Theater eine bestimmte Situation
definiert und eine bestimmte Sicht der Realität propagiert wird.

Die Aufführung der Selbstdarstellung in einer sogenannten
Spefuchsenveranstaltung findet auf der Vorderbühne statt; die Hinterbühne
ist der kleine Kreis des Spefuchsenausschusses, der die Aufführung
vorbereitet.

Perspektiven

Wie jede andere Institution kann auch ein Corps unter verschiedenen
Perspektiven dargestellt werden:

– "technisch" im Hinblick auf seine Wirksamkeit
bei der Verfolgung seiner Ziele;
– "strukturell" unter dem Gesichtspunkt der Statusunterscheidungen
und der Beziehungen, die die verschiedenen Gruppierungen miteinander
verbinden;
– "kulturell" bezüglich der moralischen Werte,
von denen die Tätigkeit innerhalb des Corps beeinflußt wird. Wertsetzungen,
die sich auf Mode, Sitten, und Fragen des Geschmacks, auf Höflichkeit
und Anstand, auf letzte Ziele und normative Abgrenzung der Mittel
beziehen;
– "politisch" unter dem Gesichtspunkt der Handlungen,
die jede Einzelperson oder jede der Gruppierungen von den anderen
verlangen kann; die Arten der Bestrafungen und Belohnungen, die
ausgeteilt werden, um diese Ansprüche durchzusetzen;
– "dramaturgisch" im Hinblick auf die Techniken
der Eindrucksmanipulation auf den Veranstaltungen.

Hinterbühne: Sorgfalt

Wir erwarten, daß sich jeder aktive Teilnehmer an der Veranstaltung
mit viel Überlegung auf seinen Auftritt vorbereitet. Schon bei der
Vorbereitung wird er sorgfältig auf seine Erscheinung und seine
Haltung achten: nicht nur, um einen günstigen Eindruck zu erwecken,
sondern auch, um sicherzugehen, und jedem versehentlich hervorgerufenen
ungünstigen Eindruck entgegenwirken zu können. Denn nur zu oft treten
Störungen durch ungewollte Gesten, Fauxpas und Szenen auf, die der
beabsichtigten Darstellung widersprechen und sie dadurch diskreditieren;
aber die Glaubwürdigkeit der Aufführung kann gerettet werden, wenn
sich die Corpsbrüder sorgfältig vorbereitet haben und wenn sie sich
in der Veranstaltung loyal und diszipliniert verhalten.

Takt und seine Erwiderung

Offensichtlich ist eine automatische Garantie dafür, daß
kein Angehöriger des Corps und kein Spefuchs unangemessen handelt,
dann gegeben, wenn der Gesprächskreis so klein wie möglich gehalten
wird: je weniger Teilnehmer, desto weniger Möglichkeiten für Fehler,
"Schwierigkeiten" und Verrat. Andererseits scheinen Menschen
als Kulisse besonders stark zu wirken – insofern ist eine rege Beteiligung
Alter Herren nicht unbedingt das Schlechteste.

Zum taktvollen Benehmen der gastgebenden Corpsbrüder im
Rahmen der Regeln von Anstand und Höflichkeit gehört es auch, daß
sie ihrerseits den Gästen eine geglückte Selbstdarstellung ermöglichen.

Hinterbühne: Sicherheit

Die gemeinsamen Werte des Corps bestimmen, was der einzelne
über zahlreiche Fragen denkt, und sie bilden einen Rahmen für die
Scheinvorstellungen, die gewahrt bleiben müssen, ob nun Überzeugungen
hinter dem Schein stehen oder nicht.

Das Corps bildet eine geschlossene Gemeinschaft, die jedem
Mitglied einen Platz und eine moralische Stütze bietet. Die Entwicklung
einer starken Gruppensolidarität innerhalb des Corps schützt vor
illoyalem Verhalten und befreit von Zweifeln; sie verleiht emotionale
und moralische Immunität und reduziert die Gefahr unangemesser Gefühlsbindungen
zwischen einem gastgebenden Corpsbruder und einem Außenstehenden.

Dem loyalen und disziplinierten Corpsbruder unterlaufen
keine ungewollten Gesten oder Fauxpas. Er ist diskret; er verrät
sein Corps nicht, indem er aus Versehen seine Geheimnisse ausplaudert.
Er besitzt Geistesgegenwart und kann spontan unangebrachtes Verhalten
seiner Corpsbrüder vertuschen. Und wenn sich eine Störung nicht
vermeiden oder verbergen läßt, kann er überzeugend klarmachen, warum
sie nicht ernst genommen werden sollte. Er besitzt Selbstbeherrschung
und unterdrückt seine Reaktionen gegenüber Corpsbrüdern, die Fehler
machen, oder gegenüber Spefüchsen, die ihm übertriebene Zuneigung
oder Feindseligkeit zu erkennen geben. Und er kann sich zwingen,
nicht über Dinge zu lachen, die ernst gemeint sind, oder Dinge ernst
zu nehmen, die andere für komisch halten.

Literatur: Erving Goffmann: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung
im Alltag. Serie Piper, München, 5. Aufl. 1996, DM 19,90

»K. Ibel

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