KLIMAWECHSEL
Von einer "Bindungslosigkeit
der Jugend" kann wohl nur ein sogenannter "Erwachsener"
reden; dabei trifft der in diesem Ausdruck enthaltene Vorwurf, wenn
überhaupt, dann eher gerade auf die Älteren zu. Der gegenwärtige
Klimawechsel bringt es mit sich, daß wir heute nicht mehr unbedingt
über eine allgemeine "Bindungslosigkeit der Jugend" klagen
können.
In der Generation der 68er Revolte gab es eine besondere
Empfindlichkeit gegenüber allen Formen einer Bindung, und überhaupt
gegenüber alle äußeren Formen; ein Unverständnis, um nicht zu sagen:
Feindseligkeit, gegenüber Ritualen jeder Art. Der Formenverlust
konnte zudem noch davon profitieren, daß der Mißbrauch des Faschismus
ein generelles Mißtrauen gegen alle Rituale und Formen verbreitet
hatte; und ein Mißtrauen gegen alles, was die Verständigung über
ge-meinsame Ziele und Werte symbolisch bekräftigt. Formlosigkeit,
Bindungslosigkeit: das waren einmal und sind auch heute noch Synonyme
für Erlösung, Freiheit, Mobilität, Selbstverwirklichung; trügerische
Werte, die sich schlecht mit der heute so oft und dringend geforderten
Sozialkompetenz und Teamfähigkeit vertragen. Der Einzelne isoliert
sich selbst in seiner Bindungslosigkeit, verliert die vertraute
Nähe und liefert sich so dem rationalen Sachzwang des Berufslebens,
dem Konsumzwang und dem Meinungszwang der Medien aus.
Unifrust
An der Universität hatten einige parasitäre Formen, Sit-in,
Go-in, Teach-in, noch für einige Zeit Konjunktur; aber nur noch
so lange, wie der Kompost der alten Universität als Ressource für
den Formenverbrauch noch zur Verfügung stand.
Übrig blieb eine soziale und kulturelle Wüste. Der »Unifrust«
breitete sich aus: das Gefühl von Beliebigkeit und Heimatlosigkeit;
die Erfahrung von Amorphheit und Anonymität; und der generelle Eindruck
von Normlosigkeit.
Als das alles sichtbar wurde, wurde es durch die Repräsentanten
der Hochschulreform einem Wahrneh-mungsverbot unterworfen. Daß aber
keine Gemeinschaft ohne Formen auskommt und daß es deshalb nicht
um die Rituale, sondern um die in ihnen bekräftigten gemeinsamen
Werte, Ziele und Einstellungen geht, konnte man dann nicht mehr
wahrnehmen.
Wertewandel
Aber erste Anzeichen einer Wiederbelebung von Gemeinschaftsbindungen
zeichnen sich ab; die bisherige Empfindlichkeit gegenüber den hierarchischen
und ausschließenden Zügen traditioneller Gemeinschaftsformen ist
im Schwinden; die Entwertung traditioneller Formen des Gemeinschaftslebens
ist nicht endgültig; vergessen geglaubte Begriffe wie Corpsgeist
und Solidarität begegnen unerwartet einem neuen Interesse.
Freundschaft erweist sich in unserer Kultur aufs neue als
die beständigste und befriedigendste aller engen persönlichen Bindungen.
Im neuerwachten Interesse an der Freundschaft spiegelt sich besonders
deutlich der derzeitige Wertewandel.
Zeitzeichen
Wenn wir diesen Wertewandel mit eigenen Augen sehen wollen,
brauchen wir nur auf unser Corpshaus mit seinen renovierten Gesellschaftsräumen
zu pilgern. Die Aktiven zeigen uns dort, daß es wieder möglich geworden
ist, individualistisches Anspruchsdenken auf ein vernünftiges Maß
zurückzuschrauben; und dafür diejenigen individuellen Eigenschaften,
die für jede Gemeinschaft von hervorragender Bedeutung sind, besonders
zu pflegen: Loyalität, Disziplin, Sorgfalt.
Unseren Dank an diejenigen, die es in den vergangenen drei
Jahrzehnten verstanden haben, die Corpsgemeinschaft am Leben zu
erhalten; unseren Dank an diejenigen, die jetzt dafür sorgen, daß
der Klimawechsel den Freundeskreis mit neuem Leben erfüllt:
Vorbei die Eigenbrötelei – Gemeinsam sind wir Treu,
Fest, Frei!