EIN WAHLSPRUCH ZUR WAHLFREIHEIT
Die Gesamtzahl der Wahlmöglichkeiten
wird vermehrt, wenn jeder die Eigenarten des anderen achtet und die
Verantwortung für sein Handeln jeweils selbst übernimmt. Die Wahlfreiheit
wird eingeschränkt, wenn Verantwortung auf andere abgeschoben wird.
Die 68er Selbstverwirklichungsideologen hatten diktatorisch
die Forderung erhoben, ein jeder müsse sich von den Fesseln kollektiver
Zwänge befreien lassen. Heute erleben wir die Inthronisierung einer neuen
Weltorientierungshoheit, die des neoliberalen Kapitalismus. Auch die neue
Ideologie propagiert eine Art der Befreiung: Heute gelte es, das Primat
der privaten Glückspiele gegen das Primat des Politischen durchzusetzen;
traditionelle gesellschaftliche Institutionen seien daher auch weiterhin
unter Druck zu setzen. Als Träger des Willens zur Zukunftsgestaltung scheint
damit tatsächlich nur noch das Individuum, der clevere Einzelkämpfer,
der rücksichtslos den eigenen Vorteil Suchende übrig zu bleiben. Dem Tüchtigen
wird versprochen, er könne seine Geschicklichkeit, Tatkraft und Intelligenz
schnell und effektiv in materielle Erfolge umsetzen – auch wenn mit seiner
Wahlfreiheit die Gesamtzahl der Wahlmöglichkeiten aller Betroffenen unter
die Räder kommen sollte.
Alles, was uns verordnet wird, steht unter dem Vorbehalt
unbeabsichtigter Folgen, unter dem Diktat von Gegenbewegungen, unter der
Unergründlichkeit der Zukunft. Die Antithese zur Individualisierung ist
die Wiederentdeckung von Herkunftsbindungen und die Wiederbelebung früher
Freundschaften. Die Antithese zur Erfolglosigkeit ist die Wiederherstellung
der Wahlfreiheit für rücksichtsvolles, vorsichtiges, umsichtiges, einsichtiges
und nachsichtiges Handeln; ein Handeln, das den „Misserfolg“ – der die
gewohnte Art, die Dinge zu sehen, verstört – zu einem Erfolg (ohne Miss-)
macht.
Warum die Verantwortung für sein „Unglück“ auf widrige
Umstände oder auf die Böswilligkeit der Mitmenschen abschieben? Es gibt
Besseres. Kreativität im Plural lautet die Alternative: Sich etwas sagen
lassen. Anhören, was getan werden sollte. Dem Schutz und Halt Suchenden
mit Fairness, Vertrauen und Toleranz kollektive Hilfe leisten. Dem Unerfahrenen
helfen, sich gegen die anonyme und amorphe Gesellschaft, dieses unpersönliche
Monster mit seiner eigensinnigen Böswilligkeit, zu behaupten. Sich als
verantwortlicher Teilhaber der organisierten und strukturierten Gesellschaft
zeigen. Konsensfähigkeit ausloten. Widersprüchliche Anforderungen wahrnehmen.
Kontroverse Meinungen offenlegen und vermitteln. Der Meinung des Anderen
in respektvoller Weise Neues hinzufügen. Dem Unmündigen und Unselbständigen,
dem gesellschaftlich Benachteiligten die Stelle in der Rangordnung einräumen,
die ihm nach dem Anfang seiner Mitgliedschaft zusteht.
Wir sind nur allzu gern geneigt uns auf selbstgefällige
Weise in eine bestimmte Weltsicht zu verstricken, uns in unseren Handlungen
festlegen zu lassen, unsere eingefahrenen Denkweisen und scheinbaren Gewissheiten
zu verteidigen. Aber der Egotrip des Einzelgängers in die reine Zukunft
seiner Wahl, so vielversprechend er zunächst beginnen mag, kann leicht
zu einem Horrortrip ins Niemandsland werden. Es ist wohl zuweilen wichtig,
ein Problem auf die eine oder andere Weise zu lösen; es hat aber immer
peinliche, wenn nicht gar verheerende Folgen, wenn man sich in den Glauben
verirrt, die gefundene Lösung sei die einzig richtige und darum einzig
mögliche.
Von diesem Irrweg werden wir durch unsere natürlichen
und selbstgewählten Bindungen bewahrt; sie erinnern uns daran, dass es
immer einen erweiterten Kontext gibt, der es ermöglicht, den eigenen Wahlfreiheitsspielraum
und den der anderen zu vergrössern.
Daher der Wahlspruch zur Wahlfreiheit: TREU FEST
FREI!