N° 12 Angeheitert

ERGO BIBAMUS!

Eine Spezialität des zeitgenössischen
deutschen Philosophen Peter Sloterdijk ist das Aufspüren von unbewußten
und vergessenen Zusammenhängen, von fremden und verschütteten Weisheiten.1993
ist ein Band mit dem Titel »Weltfremdheit« erschienen; dem Kapitel
»Wozu Drogen? Zur Dialektik von Weltflucht und Weltsucht« verdankt
der vorliegende Brief sein Entstehen. Erst der Widerstreit von Nüchternheit
und Begeisterung macht Trinken schön.

Der Mensch ist von der Frühzeit der uns bekannten Kulturen an ein Drogenbenutzer
gewesen, wenn auch ursprünglich unter ganzanderen Begriffen. Die
Drogen waren psychodelische, psychotrope Substanzen, Türöffner zum
Heiligen, im Ritual gebunden, ineinem Kult verankert.

Heute wird der Begriff Droge mit
Sucht in Zusammenhang gebracht: Der von allen guten Geistern verlassene
Mensch sucht sich privat und allein das unverhältnismäßig schwer gewordene
Gewicht der Welt zu erleichtern, seinen Jammer im Alkohol zu ertränken,
sich mit Hilfe von Drogen aus seiner Schief- und Tieflage zu befreien.
Auchdas sich mit äußerer Betriebsamkeit, mit Themen, mit Projekten, mit
commitments, mit gesellschaftlich geduldetem Workoholismus permanent anfüllende
Subjekt ist süchtig, ist arbeitssüchtig geworden, hat Maß und Realitätssinnverloren.
Ein blühender Wirtschaftszweig mit hohem Bruttosozialprodukt lebt von
seiner Sucht, Ärzte, Therapeuten,Rechtsanwälte, Seelsorger ziehen ihm
das Geld aus der Tasche,bis schließlich die zuständigen Stellen des Sozialstaatsentsorgen,
was übrig bleibt; der Restmüll wird der Endlagerung zugeführt.

Zwischenmenschliche Begegnungsvermeidung

Weltflucht ist gelegentlich notwendig,
wenn es darum geht, Abstand zu den Problemen zu gewinnen; eine dauerhafte
Lösung auf dem Boden der Realität finden wir aber dadurch nicht. Dazu
brauchen wir die Begegnung mit einem vertrauenswürdigen Mitmenschen. Jemand,
der bereit ist, mit uns zu sprechen. Mit uns die Last zu teilen. Die Last
gemeinsam tragen.

Zum Wohl!

Reste des archaischen Drogenverständnisses
haben sich in säkularisierter Form inunseren Trinksitten erhalten. Denn
im Zutrunk wird der Genuß der Droge Alkohol zu einer Zeremonie, einer
Beschwörung der guten Geister zum Wohle des Angesprochenen. Wir zeigen
uns überrascht und erfreut über den Zutrunk eines Älteren, einer Achtungsperson.
Wir richten uns auf, wenden uns dem Zutrinkenden zu, erheben unser Glas
bis auf Brusthöhe, verneigen uns: "Vielen Dank für den freundlichen
Zutrunk! Prosit!" Wir setzen an, trinken, so lange, aber nicht länger,
als der Ältere. Und nach fünf Bierminuten erwidern wir den Zutrunk.

Hinter der Fassade des Zeremoniells
öffnen sich die Herzen, lösen sich die Zungen, scheinbar widersprüchliche
Ansichten vermitteln ein plastisches Bild der Welt, Ansatzpunkte für vernünftiges
Handeln kommen in Frage und Antwort zur Sprache: Verminderung der Last
durch Bedürfniseinschränkung und Konsumverzicht? Abwälzender Last auf
andere? Sehr berechtigte Fragen, auf die es keine endgültigen Antworten
gibt. Aber das hilft: Der Begeisterte beflügelt den Nüchternen und der
Nüchterne holt den Begeisterten auf den Boden der Wirklichkeit zurück.

Einen Corpsbruder zum »Trinkenüber
den Durst« zu verleiten, scheitert, wenn der am nächsten Tag auf Draht
sein möchte, wenn er eine Mensur zu schlagen oder eine Klausur zu schreiben
hat; denn dann trinkt er lieber eine Apfelschorle, läßt sich allenfalls
durch das gemeinsam gesungene Lied vom versoffenen Kurfürsten Friedrich
von der Pfalz oder dem bewunderungs würdig trinkfesten Zwerg Perkeo begeistern.
Erst nach bestandener Prüfung ist unbeschwertes Trinken wirklich schön.

Weltfreundschaft

Der junge Arminianer lernt, sich
als Zwischenhändler der Ersatzdroge Lebenskunst erfolgreich auf dem Markt
zu behaupten. Im Kreis der Gleichaltrigen übt er sich in einer Weltfreundschaft,
die sich am Faden der Sympathien vorantastet.

Corps Arminia: Trinkkultur, Kultur
der Herzlichkeit. Seinem Gegenüber zuprosten, auf sein Wohl trinken.

»K. Ibel

Peter Sloterdijk: Weltfremdheit. edition suhrkamp 1781, Frankfurt 1993
ISBN 3-518-11781-5, DM 24,80

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